Scham.

Erst kürzlich habe ich festgestellt, dass ich etwas mit Christian Ulmen gemeinsam habe. Den mochte ich schon zu MTV-Zeiten und auch in “Herr Lehmann”, wahrscheinlich weil er immer schon so wenig Mainstream war.

Was ich nicht wusste: Christian Ulmen schämt sich viel. Sehr viel. Für alles. Auch für seine Frau, wenn die zum Beispiel im Jogging-Anzug in Fünf-Sterne-Hotels rumläuft. Kann ich total gut nachvollziehen. Habt ihr schon mal gehört, wie sich meine Frau schneuzt? Sie trompetet! Und zwar selbstbewusst! Peinlich!!!

Fremdscham kenne ich also natürlich auch, aber Selbstscham ist eigentlich viel schlimmer. Wenn ich meine Daheim-Rumgammel-Klamotten anhabe, gehe ich am liebsten nicht mal zum Müll. Ich mag auch morgens nicht mit ungewaschenen Haaren aus dem Haus gehen, weshalb meine Frau immer zum Bäcker gehen muss.

Christian Ulmen schämt sich dauernd (und ich mich dafür, dass ich hier nur “Qualitätsmedien” verlinke…):

Sobald ich das Haus verlasse, ist mir das Leben unangenehm. Ich frage mich, ob ich rieche.

Auch ich kann mich dauernd schämen und habe oft das Gefühl, ich stünde unter ständiger Beobachtung, was natürlich nicht der Fall ist. Denn der Witz ist, meist schäme ich mich ja für Dinge, die andere gar nicht wahrnehmen. Wahrscheinlich würden weder die Bäckerin noch irgendwelche Nachbar*innen darauf achten, ob meine Haare nun gewaschen sind oder nicht.

Aber es geht nicht nur um Körperliches. Ich schäme mich zum Beispiel, meinen Beruf langwierig zu erklären… In den Momenten würde ich mir wünschen, einfach “Lehrerin”, “Krankenschwester” oder “Astronautin” sagen zu können. Mein Gegenüber wüsste Bescheid und wir könnten weiterreden. So muss ich aber immer ausholen, erklären… manchmal auch, wie ich da hingekommen bin, was ja über Umwege war. Dabei frage ich mich innerlich die ganze (gefühlt ewig lange!) Zeit, ob die andere Person das überhaupt so genau wissen wollte… und ärgere mich hinterher, dass das nun aber wirklich ungelenk erklärt war.

Ich schäme mich für all das vermeintliche Allgemeinwissen, das mir fehlt. Es kann sein, dass ich nie lernen werde, welche Ozeane nun wo sind (mein Erdkundelehrer war echt nett, aber schon er stellte fest, dass ich zur Gattung der geographischen Wildsäue gehöre). Ich schäme mich, wenn die Wohnung nicht richtig aufgeräumt oder sauber ist, und Leute vorbeikommen. Beim Tanzen schäme ich mich leider auch und kann daher nie so ganz aus mir herausgehen, wie ich das gerne würde. Naja, Alkohol hilft vielleicht – aber der Psycho-Kater ist dann noch viel schlimmer und ich schäme mich für so gut wie alles, was ich alskoholisiert getan und gesagt habe…

In manchen Situationen schäme ich mich leider tatsächlich immer noch dafür, mich als lesbisch outen zu müssen. Darüber ärgere ich mich dann und schäme mich dafür natürlich, erst Recht am heutigen “Lesbian Visibility Day”! Außerdem passt das auch überhaupt nicht zu meinen Überzeugungen: Es ist schließlich definitiv nichts, wofür man sich schämen muss. Soweit kommt es noch!

Natürlich schäme ich mich auch für diesen Blog. Schließlich lege ich hier einiges Persönliches über mich offen und habe keine Kontrolle darüber, wer das liest. Somit ist das hier Selbsttherapie für genau das beschriebene übertriebene Schamgefühl. Mir ist schließlich bewusst, dass das Schamgefühl daher rührt, dass ich Angst davor habe, sozialen Normen oder Erwartungen von anderen nicht zu genügen. Rein rational bin ich aber überzeugt davon, dass niemand sich für seine Schwächen und sein Innerstes schämen sollte und bin hier für mehr Offenheit diesbezüglich. Man muss sich also auch schämen können, finde ich. Dazu stehe ich.
Und gehe nun ins Bett, ziehe mir die Decke über den Kopf und schäme mich.

Every finger in the room
is pointing at me
(Tori Amos ~ Crucify)

7 Kommentare

  1. Jeder hat so seine speziellen Schämfaktoren. Vieles ist einfach gesellschaftlichen Normen geschuldet, manches ist individuell. Aber sich zu schämen, ist nichts, wofür man sich schämen muss. Im Gegenteil

  2. Was ich dir schon lange sagen wollte … und es mit diesem Beitrag wirklich nötig ist…
    Ich habe tatsächlich deinen Blog abonniert. Und ich lese keine Blogs. Aber deinen schon. Ja, ich kenne dich auch persönlich. Doch das ist nicht der Grund. Ich freue mich tatsächlich jedesmal, wenn ich eine Email bekomme mit der Info, dass wieder ein neuer Beitrag online ist. Diese lese ich nicht sofort oder überfliege sie. Nein, ich warte, bis ich wirklich Zeit und Muse habe und genieße es zu lesen…
    Ich mag deinen Schreibstil und wünschte, ich könnte mich auch so ausdrücken.
    Ich mag deine Themen und bin fasziniert davon, dass dir immer wieder etwas einfällt.
    Ich mag deine Gedanken, denn ich kann sie so oft sehr gut nachempfinden.
    Ich mag deine Denkanstöße, denn es ist schön auf andere Gedankenwege geführt zu werden.

    Ja, dein Blog gibt mir viel. Ob es jetzt komisch klingen mag oder nicht.
    DANKE

    1. Oh. Vielen lieben Dank, Haydi, für die netten Worte!! Das freut mich wirklich sehr (und treibt mir außer ein paar Tränchen in die Augen natürlich auch die Schamesröte ins Gesicht! ☺️) Danke dir fürs Abonnieren, Lesen und Kommentieren!!

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