Externalisierungsgesellschaft.

Wir leben nicht über unsere Verhältnisse. Wir leben über die Verhältnisse der anderen.

Vorgestern las Stephan Lessenich beim Nord-Süd-Forum aus seinem Buch „Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis“. Das interessierte mich aus mehrerlei Gründen – vorrangig natürlich, weil es ein Thema ist, welches mich auch umtreibt. Aber auch, weil ich mir diesen Stephan Lessenich mal anschauen und v.a. anhören wollte, der gerade mit Claudia Stamm und anderen unter dem Slogan „Zeit zu handeln“ in Bayern eine neue Partei gründen will.

Lessenichs Buch thematisiert etwas, das wir alle wissen, aber nur allzu gern verdrängen: unsere reichen, hochindustralisierten Gesellschaften, die sich ihren Wohlstand auf Kosten anderer ermöglichen und alle negativen Folgen entsprechend in andere, ärmere, weniger „entwickelte“ Weltregionen externalisieren. (vgl. S.24)

Das Kapitel „Der Sojafluch oder Was kümmert uns die Bohne“ illustriert die Externalisierung am Beispiel von ausgelagerte Nutzflächen. Deutschlands landwirtschaftliche Nutzfläche ist seit den 1950er Jahren um etwa ein Sechstel
(3 Millionen Hektar) zurückgegangen, während Deutschland dem „Living Planet Report” des WWF zufolge in den 2000er Jahren durch Agrarhandel kontinuierlich über 5 Millionen Hektar Land außerhalb des Territoriums der EU in Anspruch genommen hat, die EU sogar zwischen 25-35 Millionen Hektar. (vgl. S. 83f.)

Soja ist mit 25% mittlerweile die wichtigste Exporteinnahmequelle Argentiniens, das gar nicht mehr als das Land des Fleischs gelten kann (nur 3%, vgl. S. 85). Monsanto (und bald auch der Bayer-Konzern) reibt sich die Hände über den parallelen Verkauf von Glyphosat und herbizid-resistentem Saatgut. Während hier erst alle aufschreien, wenn (wohl) krebserregendes Glyphosat im Bier gefunden wird, wird Monsantos Produkt „Round Up“ in Argentinien seit Jahrzehnten im großen Stil zum Nachteil der Bevölkerung eingesetzt. Zum Vergleich: im Jahr 1990 wurden in Argentinien noch 34 Millionen Liter Herbizide, Pestizide und Fungizide versprüht, im Jahr 2015 waren es bereits 317 Millionen Liter! (vgl. S. 84ff.)

Weiter geht es im Buch mit dem nicht weniger unangenehmen Thema der Mobilität und der unterschiedlichen Bewegungsrechte im globalen Norden und Süden. Gerade die Deutschen tragen den unrühmlichen Titel der „Reiseweltmeister“ mit 81,6 Millionen Fluggästen allein im Jahr 2015. Während wir die „Batterien aufladen“, nehmen wir unweigerlich anderweitig Energien und Arbeitskraft in Anspruch. Und der WWF kalkuliert den Carbon Footprint für zwei Wochen All-Inclusive in Cancùn mit 7218 kg CO₂pro Person (vgl. S. 133).
Neben diesen Effekten unserer weiter wachsenden Reisefreudigkeit sollen laut Lessenich aber auch endlich „die ungleichen Berechtigungsstrukturen im globalen Mobilitätsgeschehen“ die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdienen. Schließlich reisen wir fröhlich auf Kosten derer in der Welt herum, die wiederum ihr Land aus finanziellen oder rechtlichen Gründen schwerlich, gar nicht oder nur unter Einsatz ihres Lebens verlassen können (vgl. S. 135).

Wie erwartet hinterließ der Abend ein flaues Gefühl. Immer noch leben wir munter so weiter, als ob die Externalisierung der negativen Konsequenzen unseres Handelns die Lösung aller Probleme wäre. Ob die Sintflut nun nach uns kommt oder neben uns eintritt – Hauptsache, WIR sind nicht mittendrin. Wenn man der Realität jedoch ins Auge blickt, wird klar, dass die Folgen uns hier einholen (werden) – sei es durch die Effekte des Klimawandels, durch Flüchtlingsströme, endende Rohstoffe und Energiequellen, etc. pp.

Wissend um das Glück, das mir bei der „Birthright lottery“zugefallen ist, erwartete ich wie wohl viele im Publikum (und auch viele Leser*innen des Buches) zum Abschluss die Lösung. Oder wenigstens ein paar gute Tipps, was zu tun sei,
um die Katastrophe, in die wir uns sehenden Auges und mit wachsender Geschwindigkeit laufen, aufzuhalten. Oder wenigstens abzubremsen.

Lessenich nahm gleich voraus, dass er hier nur enttäuschen könne. Ganz der Intellektuelle/Soziologe/Wissenschaftler sieht er es als seine Aufgabe, mit dem Finger auf das zu deuten, was wir da tun, das Ganze zu betrachten und analysieren, die „Bumerang-Effekte unseres Externalisierungshandelns“ (S. 187) aufzuzeigen. Denn „die Rede von der Externalisierungsgesellschaft bricht mit der Schweigespirale des Wohlstandskapitalismus.“ Dies soll aus soziologischer Sicht dazu beitragen, Politisierung und Transformation zu erreichen („Tut was!“ statt „Empört euch!“). Wirklicher Wandel kann laut Lessenich nur geschehen, wenn es „gelingt, das nationale wie transnationale Institutionengerüst der Externalisierungsgesellschaft im Sinne eines demokratischen, global-egalitären Reformprojekts umzupolen.“ (S. 194ff.)

Große Worte, die wohl schwer vermittelbar sind an die Durchschnitts-bürger*innen. Das schlechte Gewissen drückt auch mich immer wieder, doch habe ich das Gefühl, immer nur im viel zu Kleinen zu agieren: klar, hier mal eine Flugreise weniger, da öfter mal regionale, saisonale, Bio-Lebensmittel, kein Auto, dafür ein Konto bei der GLS Bank, Ökostrom… Mir ist sehr bewusst, dass da auch bei mir noch viel mehr gehen muss, die Komfortzone muss verlassen werden. Doch ganz klar ist, dass wir alle nicht einfach so weitermachen können. Wünschenswert wäre es, dass Stimmen wie die von Stephan Lessenich endlich gehört werden.

7 Kommentare

    1. Na dann. Ich bin seit 8 Jahre Vegetarierin (und esse immer öfter vegan), fahre Rad zur Arbeit und in Urlaub, kaufe selten Kleider, werfe niemals essen weg usw. Und trotzdem finde ich das nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die Industrie und die allgemeine Wirtschaftsweise kann ich persönlich nicht verändern, Demokratie und Wahlen hin oder her.

    2. Und gleichzeitig schätze ich eine warme Dusche täglich, einige Stunden Ersparnis durch Fliegen auf Dienstreisen und manchmal auch in Urlaub. Und einiges mehr. Ich finde das lobenswert, sich drüber Gedanken zu machen aber irgendwie nicht zu Ende gedacht. Ich werde das Buch mal lesen.

  1. Ist doch schon gut, was wir machen und dass wir es machen. Da zählt auch jede*r einzelne. Aber ich frage mich auch, wie erreicht man eine kritische Masse? Wir waren grad beim Climate March und leider sind die meisten Münchner*innen wohl mal wieder lieber in den Biergarten gegangen…

    1. Ich fürchte, die Menschen wollen nicht erreicht werden. Wer es wissen will, hat es mitbekommen. Und viele, die es mitbekommen haben, handeln nicht entsprechend. Deutschland ist Reiseweltmeister und Möchtegern – Ökoweltmeister. Das schließt sich gegenseitig aus. Und auch gerade unter den Besserverdiener, die die Grünen wählen und sich über andere empören, gehören zu den Vielfliegern – die sich regelmäßig einen Erholungsurlaub gönnen. Es wäre sozusagen eine Beleidigung und Spaßverderberei, wenn man jemanden wegen seines schönen Flugurlaubs auch nur in einem Nebensatz drauf ansprechen würde. Mach ich auch nie. Das ist irgendwie unhöflich, taktlos. Und, dass es so unhöflich ist, zeigt den Widerspruch in dem wir leben.

    2. Ja, da hast du Recht. Viele Flugreisen gehören bei uns einfach dazu, anders als noch bei unserer Elterngeneration. Man traut sich auch nix sagen, weil man ja selbst im Glashaus sitzt. Wir sind auch zum L-Beach fürs WE nach HH geflogen, haben schon einige Fernreisen gemacht und zur Familie nach England ist die Reise ohne Flugzeug einfach echt lang. Dennoch versuchen wir, dies bewusst zu reduzieren, mehr Zug zu fahren… einen innerdeutschen Flug mache ich nun wirklich nicht mehr, und auch für nur ein WE wo hinjetten kommt für mich nicht mehr in Frage. Aber der Widerspruch, in dem wir leben, ist eklatant. Wir sind wie krebskranke Kettenraucher*innen, wenn man so will…

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